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Der Krieg und die Vernichtung der achten Symphonie, 1939–1945

Aino und Jean Sibelius überlegten im Sommer 1939, ob sie in die Stadt Helsinki zu übersiedeln sollten, weil Aino Sibelius sich nach ihren Töchtern sehnte. So mieteten sie eine Stadtwohnung in Kammiokatu, im Stadtteil Töölö und zogen Ende September von Ainola dorthin um. Die Einwohner von Helsinki wurden jedoch schon ein paar Wochen später ermahnt, ihre Kinder aus der Hauptstadt wegzuschicken und in Sicherheit zu bringen, weil die Gefahr eines sowjetischen Luftangriffs auf die Stadt bestand. Sibelius beschloss nach Ainola zurückzukehren, wo er sich um seine Töchter und deren Familien kümmerte, die ebenso vor dem Krieg nach Ainola geflüchtet waren.

Der Winterkrieg brach am 30. November aus, als die Sowjetunion Finnland überfiel. Sibelius wurde Zuflucht in den Vereinigten Staaten und in den skandinavischen Ländern angeboten, aber der patriotische Komponist weigerte sich, die Heimat zu verlassen. „Die Ausländer verstehen das doch nicht, dass ein Finne seine Heimat in der Stunde der Not nicht verlässt“, kommentierte Aino Sibelius.

Nach dem Winterkrieg dachte die Familie wieder daran, in die Stadt umzuziehen. Dies geschah auch im Herbst 1940. Aino Sibelius fühlte sich wohl in der Stadt, sie ging oft ins Theater und besuchte fleißig die Familien ihrer Töchter. Die Hochhausgeräusche peinigten den Komponisten, obwohl er andererseits die Strandspaziergänge schätzte.

Auch der 75. Geburtstag von Sibelius wurde in der Wohnung in Kammiokatu gefeiert. Der Komponist ließ sich nicht dazu überreden, an den offiziellen Feierlichkeiten teilzunehmen.

Arbeitete Sibelius in der Wohnung in Kammiokatu noch? Der Komponist Einar Englund hörte von seinem Lehrer Martti Paavola, dass dieser im Jahr 1940 in Kammiokatu gewesen wäre und auch einen Blick in Sibelius Tresor geworfen hätte. Paavola erinnerte sich daran, dass es im Tresor „mehrere Partituren gegeben hat, zumindest ein Requiem, eine Symphonie, vermutlich die achte und zusätzlich noch einige symphonische Dichtungen“.

Im Juni 1941 verschärfte sich die Lage zwischen Finnland und der Sowjetunion wieder einmal so, dass die Aufforderung erging, die Kinder von Helsinki in Sicherheit zu bringen. Und wieder zogen Aino und Jean Sibelius nach Ainola um, um ihre Enkelkinder zu beaufsichtigen. Dieser Umzug war endgültig. Die Wohnung in Kammiokatu wurde noch anderthalb Jahre beibehalten, weil man gelegentlich ein Nachtquartier in der Stadt brauchte. Sie wurde im Jahr 1942 aufgekündigt. „Meiner Meinung nach war sie ein gutes Hotel“, kommentierte Sibelius später. Die Kammiokatu heißt heute Sibeliuksenkatu (Sibeliusstraße).

Nur ein paar Wochen nach dem Umzug fing der in Finnland Fortsetzungskrieg genannte Krieg an. Sibelius' Einkommen aus dem Ausland versiegte und die Bewohner von Ainola litten unter der Lebensmittelrationierung. Das Gemüse aus dem eigenen Garten half mit, den Speiseplan des alternden Ehepaares und der Familien der Töchter abwechslungreicher zu gestalten.

Sibelius' internationaler Status änderte sich im Frühling 1942, als der für die Nazipropaganda verantwortliche Joseph Goebbels eine Sibelius-Gesellschaft in Deutschland gründete. Zweck dieser Gesellschaft war es, die kulturellen Beziehungen zweier gegen die Sowjetunion kämpfender Länder zu stärken – möglicherweise auf Anregung des finnischen Außenministeriums. Sibelius bedankte sich für die Interesse, obwohl er den Nazis gegenüber reserviert war und den Nationalsozialismus mit seiner Rassenideologie ein gutes Jahr später, im September 1943, in seinem Tagebuch verdammte.

In einer Radiorede Sibelius', die auch in Deutschland ausgestrahlt wurde, wurde von einer Schicksalsgemeinschaft der beiden Länder geredet und Deutschland als „ein brillantes Land der Musik“ gepriesen. Der Komponist schickte seine Tochter Ruth zu den Eröffnungsfestlichkeiten nach Deutschland.

Der Radiogruß Sibelius' an die Deutschen



Die Radiorede zur Gründung der Sibelius-Gesellschaft mit Proben, 1942. Sibelius hielt die Rede auf Deutsch. Drei Aufnahmen.

Sibelius’ Radiorede an die Deutschen.mp3
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Sibelius‘ Radiorede an die Deutschen_isdn.rm

Die Gründung der Gesellschaft fiel in den westlichen Ländern negativ auf und minderte nach dem Krieg den Stellenwert von Sibelius' Musik in Deutschland.

Sibelius war immer noch arbeitsfähig und vollendete während des Jahres 1942 neue Arrangements für seine Kompositionen Weihnachtsweise (Joululaulu, Julvisa) und Hoch sind die Schneewehen (On hanget korkeat nietokset). Auch seinen Traum von der Vollendung der achten Symphonie hatte er nicht aufgegeben. „Ich arbeite an einem großen Werk und möchte es gern vor meinem Tod fertig bekommen“, erzählte er im Februar 1943 seinem Sekretär. „Aber die Unmenschlichkeit des Krieges erschwert meine Arbeit. Ich kann nachts nicht schlafen, weil ich daran denke“.

Im Juni 1943 sprach Sibelius wieder mit Jussi Blomstedt (später Jalas) über sein neues Werk. „Für jede meiner Symphonien habe ich eine spezielle Technik entwickelt. Musik darf nichts Oberflächliches sein, sondern sie muss gelebt sein. In meinem neuen Werk kämpfe ich gerade mit diesen Sachen“. Im Laufe derselben Diskussion redete Sibelius Unheil verkündend über seine Entwürfe. „Passt bitte auf, dass nach meinem Tod, alle meine Entwürfe verbrannt werden. Ich will nicht, dass jemand ‚Sibelius' letzte Gedanken’ oder Ähnliches schreibt“. Jussi Jalas hielt immer am selben Tag das seiner Meinung nach Wesentliche der Diskussionen mit Sibelius auf Notizzetteln fest.

Während des Jahres 1943 wurde nur das Arrangement der Ballade Des Fährmanns Bräute (Koskenlaskijan morsiamet) fertiggestellt.

Im September 1944 schloss Finnland mit der Sowjetunion einen Waffenstillstand, der sich als permanent erwies. Im selben Monat schrieb Aino Sibelius an ihre Freundin Lina Boldemann über das Leben ihres Ehegatten. „Er geht mehrere Male am Tag spazieren, und wenn es ihm – dank seiner Natur – gelingt, für einen Augenblick all das Schwere und Bedrückende zu vergessen, ist er so charmant, wie er ja sein kann, wie du weißt“, schrieb Aino.

Noch im Februar 1945 sprach Sibelius mit seinem Schwiegersohn Jussi Jalas „über das sich in Arbeit befindende große Werk“, vermutlich also über die achte Symphonie. Aber im Jahre 1945 war der Kampf um das Schicksal der Symphonie allem Anschein nach zu Ende. Im August 1945 erzählte er, er habe die Symphonie schon mehrmals „fertig“ geschrieben und das Werk auch einmal schon verbrannt. Einige Tage später schrieb er etwa dieselben Worte an Basil Cameron nach London, nur mit dem Unterschied, dass er das Verbrennen nicht erwähnte.

Aino Sibelius bestätigte, dass „in den 1940er Jahren“ ein großes Feuer angezündet worden war und zahlreiche Noten von Sibelius dabei als Zündmittel gedient hätten. Der Sohn von Ruth, Erkki Virkkunen, war bald nach der Notenverbrennung in Ainola und die Erschütterung seiner Großmutter fiel ihm auf. Sibelius selber sprach darüber gelassen mit seinem Enkelkind, in einem beinahe humoristischen Ton. Das Verbrennen der Noten erleichterte sein Gemüt. „Danach war das Wesen meines Gatten ruhiger und sein Gemüt heller. Es war eine glückliche Zeit“, erinnerte sich Aino Sibelius später.

Die Kompositionsarbeit ging auch nach der Notenverbrennung weiter, manchmal mit zitternden Händen und mit vom Star geplagten Augen, auf Notenpapier mit dickeren Linien als üblich, aber die meiste Zeit nur in den Wünschen und Gedanken des alternden Komponisten. Die Stille in Ainola hatte begonnen.

Katarina Ilves, Ruth Snellman, Aino und Jean Sibelius gegen Ende des zweiten Weltkrieges in Ainola