Sibelius
arbeitete im Jahr 1897 hart, erhielt aber unverhältnismäßig
wenig Wertschätzung dafür. Anfang des Jahres wurden das
gelungene Werk Promotionskantate
(Promootiokantaatti) und im Sommer das auf der Italien-Reise, in
Lohja sowie in Helsinki komponierte Werk Des Fährmanns Bräute
(Koskenlaskijan morsiamet) für Bariton und Orchester
fertiggestellt.
Letzteres wurde am ersten November 1897 relativ gut aufgenommen,
aber dennoch
erregte
die überarbeitete Version der Lemminkäinen-Suite
(Lemminkäissarja) das größere Aufsehen.
Wieder war es Merikanto, der das Werk lobte; das Publikum war
geradezu hingerissen, nur Karl Flodin missbilligte in seiner berühmten
vernichtenden Kritik Sibelius' Stil erneut.
„Musik
wie diese wirkt absolut pathologisch und hinterlässt so
verworrene, peinliche und vom Charakter her unbestimmbare
Sinneseindrücke, dass sie sehr wenig mit dem ästhetischen
Wohlgefallen zu tun hat, das alle schönen Künste und vor allem
die Musik hervorrufen sollten“, donnerte Flodin. „Die Lemminkäinen-Darstellungen
bedrücken mich, machen mich unglücklich, zerbrechen mich und führen
zu Gleichgültigkeit. Kann es Sinn der Musik sein, solche
Stimmungen hervorzurufen?“
Eine
Karikatur des Komponisten von Tuonelan Joutsen (Der Schwan von
Tuonela), gezeichnet von A. Federley 1898.
Sibelius'
Frustration war leicht zu verstehen. Er hatte schon einige
Kompositionen von sehr hohem internationalem Niveau, wie Kullervo,
Eine Sage (Satu)
und die frühen Versionen von Karelia-Suite (Karelia-sarja)
sowie Lemminkäinen-Suite (Lemminkäissarja) geschaffen.
Die Orchesterwerke waren nicht einmal publiziert. Sie und auch die
restliche Produktion fanden im Ausland keine Beachtung. Außerdem
beleidigte die niederschmetternde Kritik von Flodin Sibelius. Er
selbst akzeptierte von seiner vorzüglichen Lemminkäinen-Suite
(Lemminkäissarja)
nur zwei Teile: Der Schwan
von Tuonela
(Tuonelan
joutsen)
und Lemminkäinen
zieht heimwärts
(Lemminkäisen kotiinpaluu).
Er gab der Veröffentlichung der Suite in ihrer Gänze erst
Jahrzehnte später nach. Inmitten dieses Elends starb am 29.
Dezember die Mutter des Komponisten. Es blieb ihr vorbehalten, den
prächtigen Aufstieg ihres Sohnes an die internationale Spitze,
nur einige Jahre nach ihrem Tod, mitzuerleben.
Maria
Sibelius, die Mutter des Komponisten
Die
schroffe Wende zum Besseren fand schnell statt. Sibelius erhielt
ein jährliches Künstlerstipendium für zehn Jahre in der Höhe
von 3000 Mark. Sibelius vermutete später, dass Kajanus ihm das
Stipendium als Ersatz dafür organisierte, dass er ihn nicht für
die Musiklehrerstelle der Universität befürwortet hatte. Das
Stipendium entsprach etwa der Hälfte des Gehalts eines Professors.
In der ersten Zehnjahresperiode entsprach der Gegenwartswert des
Stipendiums 9 000–11 000 Euro im Jahr. Nach der
Zehnjahresperiode wurde das Stipendium zur lebenslänglichen Rente
umgeändert, aber die Inflation fing an, die Summe zu benagen. Das
Stipendium löste die Geldprobleme nicht, aber ermutigte Sibelius
nach und nach das Unterrichten aufzugeben.
Die
Situation besserte sich noch zusätzlich, als Sibelius die Musik für
das Schauspiel
König
Kristian II (Kuningas
Kristian II) von Adolf Paul komponierte.
Die Uraufführung war am 24. Februar. Die Schauspielmusik bezog
Perlen ein, die leicht im Gedächtnis hängen blieben wie z. B. Elegie
(Elegia)
und Das
Lied von der Kreuzspinne (Laulu
ristilukista).
Die Musette der Suite war eine so ansteckende Melodie, dass
die Helsinkier sie mit den Worten „Ich gehe nach Kämp zurück“
sangen. Ein Jahrhundert später, Ende der 1990er Jahre, als das
Luxushotel und Restaurant Kämp wiedereröffnet wurde, wurde Musette
die Warteton-Melodie der Telefonzentrale des Hotels.
Sibelius'
ehemaliger Musikerkamerad Karl Fredrik Wasenius, das
Kritikerpseudonym „Bis“ in der Tageszeitung
„Hufvudstadsbladet”, verlegte vier Stücke der Schauspielmusik:
nämlich Elegie (Elegia), Musette,
Menuett (Menuetti)
und Das Lied von der Kreuzspinne (Ristilukin laulu).
Er ließ die Noten als Klavierarrangements bei der Druckerei
Breitkopf & Härtel in Leipzig drucken. Sie verkauften sich
gut.
Sibelius
reiste Ende Februar mit seiner Gattin, gleich nach der Uraufführung
der Schauspielmusik, nach Berlin. Aino war schwanger und kehrte
bald zurück, aber Sibelius blieb in der Großstadt und schrieb
die von ihm konsumierten Alkoholmengen auf. Aino hatte ihn vor übermäßigem
Trinken gewarnt. „Janne, es kann sein, dass du gerade an der
Grenze stehst und wenn du jetzt nicht umkehrst, so wirst du
schrullenhaft und sehr unangenehm in der Beziehung werden“,
schrieb Aino.
Der
Aufenthalt in Deutschland lohnte sich. Adolf Paul drängte
Sibelius, mit ihm nach Leipzig zu fahren, um den Direktor der
deutschen Großdruckerei Breitkopf & Härtel, Oskar von Hase,
zu treffen. Breitkopf & Härtel hatte schon früher die
Schauspielmusik zu König Kristian II (Kuningas Kristian
II) auf Wasenius'
Kosten gedruckt und jetzt beschloss der Verlag die Rechte auf die
Schauspielmusik für Deutschland zu kaufen. Sibelius hatte endlich
eine Verbindung zu einem internationalen Verleger.
Sibelius
arbeitete seine Schauspielmusik im Sommer in Lohja aus. Wasenius
ließ auch die teuren Orchesterpartituren drucken und war erschüttert
über die Kosten. Breitkopf & Härtel begann damit, sie in
Deutschland zu vertreiben.
Das
Leben verlief gut: die dritte Tochter Kirsti wurde im November in
Helsinki geboren und im Dezember war die Orchestersuite König
Kristian II (Kuningas
Kristian II)
in Helsinki ein Erfolg. „Die Musik klingt ausgezeichnet und die
Tempi scheinen korrekt zu sein. Es ist das erste Mal, dass ich
etwas auch meiner Meinung nach Fertiges zustande gebracht habe”,
schrieb der Komponist.
Sibelius
erntete mit der Musik König Kristian II (Kuningas
Kristian II) auch außerhalb Finnlands etwas Ruhm.
Schon im Februar 1899 wurde das Schauspiel in Stockholm mit gutem
Erfolg aufgeführt, allerdings wurde die Musik von einem etwas
schwachen Orchester vorgetragen. Auch in Leipzig konnte man die
Musik im Februar unter Leitung von Hans Windersten hören. Die „Leipziger
Anzeitung“ bezeichnete das Werk als eine „Nichtigkeit“ und
der Komponist war verärgert. Er hätte sich doch lieber mit einem
vollwertigeren Werk in der Stadt vorstellen wollen.
Ein
solches war auch schon am Entstehen: im Januar 1899 zog Sibelius
nach Kerava um, floh vor den Versuchungen der Hauptstadt Helsinki.
Er war gerade dabei, seine Symphonie Nr. 1 zu komponieren. Seine
patriotischen Gefühle erwachten, als der russische Kaiser
Nikolaus II am 15. Februar 1899 „das Februarmanifest“ ausgab,
das ein Versuch war, die Autonomie des Großfürstentums Finnland
einzuschränken. In dem Manifest wurde der finnischen
Volksvertretung nur eine beratende Rolle in allen den Staat
betreffenden Angelegenheiten eingeräumt.
Sibelius
komponierte neben seiner Symphonie die Hymne Gesang
der Athener
(Ateenalaisten laulu), deren Text leicht als Manifest gegen
Russlands Unterdrückung zu verstehen war.
Die Symphonie und der Gesang der Athener (Ateenalaisten
laulu) wurden am 26. April in Helsinki uraufgeführt. Der Gesang
rief die Begeisterung des Publikums hervor und hob Sibelius in den
Kreis der Anführer des Widerstandes. Die Symphonie ihrerseits
entzückte die Kritiker, auch Richard Faltin und Oskar Merikanto.
Aus der umstrittenen Persönlichkeit Sibelius war ein Nationalheld
geworden.
Sibelius
blieb der Rolle des Protestkomponisten treu. Eisgang auf dem
Fluss Uleå (Jäänlähtö
Oulujoesta) für Sprecher, Chor und Orchester wurde im Oktober
fertig.
Topelius hatte seinerzeit den Text zu Ehren von Alexander II
geschrieben und so konnte der Generalgouverneur Bobrikov ihn nur
schwerlich der Zensur unterwerfen. In der neuen politischen
Situation hatten die Finnen kaum Schwierigkeiten das Werk als
Protest einzustufen.
Das
nächste Protestwerk war im November zu hören. Sibelius
komponierte die Musik für Szenen (Tableaux vivants, Folge
lebender Bilder) im Zusammenhang mit einem Ehrenfest der
finnischen Druckpresse. Die Musik war ausgezeichnet. Sibelius änderte
zuerst die Schlussnummer, die Szene Finnland erwacht (Suomi
herää),
in eine separate Nummer ab: Finlandia.
Er bearbeitete im Jahr 1911 noch die, seiner Meinung nach besten
Stücke der Szenen, d. h. die Orchestersuite Scènes
historiques I
(Historiallisia kuvia I).
„Es
bleibt zu sehen, was dieses neue Jahrhundert für Finnland und für
die Finnen mit sich bringt“, schrieb Sibelius am Neujahrstag an
seine Gattin. „Auf alle Fälle soll die Geschichte nicht uns
Finnen verurteilen. Und die Tatsache, dass unsere Sache richtig
ist, gibt uns Würde und Gelassenheit.