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Über die Entwicklung des Erfolgs

Der internationale Durchbruch von Sibelius geschah ganz am Anfang des 20. Jahrhunderts in den nordischen Ländern, in Deutschland und in Großbritannien. Bald wurde jedoch klar, dass der Durchbruch in Deutschland nicht endgültig war. Später im 20. Jahrhundert zählten zu seinen stärksten Stützpunkten, außer den nordischen Ländern und Großbritannien, auch die Vereinigten Staaten und Japan. Das kann man deutlich in der Literatur über Sibelius sehen. Der Engländer Cecil Gray hielt Sibelius in seinem Sibelius-Buch von 1931 für den größten Symphoniker seit Beethoven. Olin Downes, langjähriger Musikkritiker der New York Times, hielt Sibelius für die klare Nummer eins unter den Komponisten seiner Zeit. 1935 wählten amerikanische Radiozuhörer in einer Umfrage zu den sonntäglichen Radiokonzerten der „New Yorker Philharmoniker“ Sibelius zum beliebtesten Komponisten. Er ließ dabei zum Beispiel Beethoven und Ravel hinter sich.

Von den 1930er Jahren an rief Sibelius’ Erfolg eine heftige Gegenreaktion hervor. Ein Faktor waren sicherlich „die Apostel“ des Komponisten, wie Olin Downes. Wenn er Sibelius lobte, beschimpfte er gleichzeitig andere zeitgenössische Komponisten, wie Schönberg und Stravinsky. Als auch noch Bengt von Törne, dem Sibelius ein paar Unterrichtsstunden gegeben hatte, sein Idol in seinem 1937 erschienenen Werk Sibelius: a close up lobte und Mahler und Debussy herabsetzte, war für einflussreiche Kritiker das Maß voll. So wurde Sibelius ab den 1930er Jahren ein Objekt der musikpolitischen Streitigkeiten.

Der deutsche Soziologe Theodor W. Adorno schmetterte 1938 von Törnes Lob nieder. Er konnte es nicht fassen, dass von Törne Sibelius für einen größeren Komponisten hielt, als Gustav Mahler und Arnold Schönberg. Er veröffentlichte seine Ansichten in der Kolumne „Besprechung“ in der „Zeitschrift für Sozialforschung“. Die Zeitschrift war eine Veröffentlichung des 1924 in Frankfurt a. M. gegründeten Instituts für Sozialforschung. Für Adorno war Sibelius ein „Kritzler“ und „auf dem Niveau solcher Amateure, die Angst vor dem Unterricht in Kompositionslehre haben“.

Er verband in einem Nebensatz sogar die „Naturverbundenheit“, die Verehrer Sibelius’ in seiner Musik zu finden glaubten, mit den Ideen von „Blut und Boden“ der Nazis. Wahrscheinlich deshalb, weil Sibelius’ Beliebtheit in den 1930er Jahren außer in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten auch in dem unter Hitlers Regime stehenden Deutschland groß war.

Man hätte den Artikel vergessen, wenn Adorno nicht in den 1960er Jahren als einer der Großen der „Frankfurter Schule“ sehr berühmt geworden wäre. Der berühmte Soziologe kam in seinen Vorlesungen über moderne Musik, die er in Darmstadt hielt, auf Sibelius zurück. Er hielt Sibelius für „ein gefährliches Beispiel“ und veröffentlichte im Jahr 1968 in seiner Sammlung Impromptus den oben erwähnten Artikel unter dem Titel Glosse über Sibelius erneut.

Adorno bekam einflussreiche Nachfolger für seinen Hass gegen Sibelius. Der Gegenspieler von Downes, der amerikanische Kritiker und Komponist, Virgil Thomson, verteidigte die europäischen Modernisten und schloss sich mit den Gegnern von Sibelius zusammen. René Leibowitz aus Frankreich bezeichnete Sibelius 1955, um die Zeit von dessen 90. Geburtstag, in einem nach dem Vorbild von Adorno verfassten Essay „als den schlechtesten Komponisten der Welt“. Diese Schriften beeinflussten eine ganze Kritikergeneration in den deutschsprachigen Ländern und in Frankreich, wo nach dem Zweiten Weltkrieg Sibelius’ Musik deutlich weniger aufgeführt wurde. Sibelius wurde bis Ende der 1950er Jahre als ein lebendes Denkmal der tonalen, als konservativ beurteilten Musik angesehen. Er hatte sich nicht dem für richtig gehaltenen Weg zur Zwölftonmusik und später zur seriellen Musik zugewandt. Keiner von Sibelius’ Gegnern dachte daran, die Aufmerksamkeit auf die Jahre der Fertigstellung der Kompositionen zu richten: Die Symphonie Nr. 4 war 1911 sogar sehr modern. Die Symphonie Nr. 7 sowie Tapiola waren in den 1920er Jahren von der Form her vollkommen revolutionär.

Die auf Missverständnissen beruhende Gegenreaktion verringerte Sibelius Beliebtheit in Großbritannien und in den nordischen Ländern nicht und hinderte auch z. B. Herbert von Karajan und Lorin Maazel nicht daran, Werke des finnischen Komponisten auch nach dem zweiten Weltkrieg sogar in Deutschland und Österreich aufzuführen. Gegen Ende der 1980er Jahre setzte ein neuer Aufschwung für Sibelius Musik ein, als namhafte Dirigenten wie z. B. Simon Rattle Sibelius’ Werke mit großem Erfolg aufnahmen.

Sibelius wird aber immer noch als eine musikpolitische Waffe verwendet. Der Direktor des Sibelius-Gebäudes in Lahti, Antti Vihinen, wies im Jahr 2000 Adornos Thesen in seiner Dissertation mit einem heftigen Gegenangriff ab. „Adornos Theorien erweisen sich als nationalistisch, chauvinistisch, sogar rassistisch, wenn man sie mit Hilfe der postkolonialistischen Theorie betrachtet“, donnerte Vihinen. Die deutsche Ruth-Maria Gleissner ihrerseits sah im Jahr 2001 in ihrer Dissertation Sibelius’ Politisierung in Deutschland etwas milder.

Die meisten Sibelius-Anhänger vertreten auch die Ansicht, dass der Komponist nicht so gerühmt werden sollte, weil dabei andere Komponisten beleidigt würden. Es gibt in der Musikgeschichte einen gewichtigen Platz sowohl für Sibelius als auch für Mahler und für eine zweite Wiener Schule, bzw. Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg. Mit ähnlichen Argumenten sind Adornos Thesen zum Beispiel in den folgenden Veröffentlichungen zurückgewiesen worden: Sibelius Companion (Greenwood Press 1996), herausgegeben von Glenda D. Goss und Sibelius Studies (2001), veröffentlicht bei Cambridge University Press. Timothy Jackson und Veijo Murtomäki machen im Vorwort des letztgenannten Werkes darauf aufmerksam, dass die heutigen Forscher, die sich mit der Schenker-Analyse vertraut gemacht haben, Sibelius zu ihrem Lieblingsobjekt gerade deshalb gemacht haben, weil die organische und symphonische Logik seiner Musik sich so gut analysieren lässt. Genau jene Elemente in Sibelius’ Musik, die sich Adorno zu sehen weigerte, werden jetzt bewundert.

Anfang des 21. Jahrhunderts sind Sibelius’ Beliebtheit und Anerkennung wieder gleich groß wie in den 1930er Jahren. Als das Symphonieorchester des finnischen Rundfunks mit Jukka-Pekka Saraste als Dirigent im Frühling 2002 Sibelius Symphonien im Wiener Konzerthaus aufführte, waren die Konzerte ausverkauft. Die Kritiker waren sich alle über Sibelius’ Wert einig; selbst in Wien, dieser vielleicht letzten Großstadt der klassischen Musik, die den Komponisten abgelehnt hatte. „Sibelius war auf eine aufregende Weise ein moderner Komponist“, schrieb Peter Vujica in der Zeitung „Der Standard“. In der „Wiener Zeitung“ wurde Sibelius in der Schlagzeile als „Markstein der Moderne“ bezeichnet.