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Von der Spätromantik zum stilistischen Umbruch

Die Jahre um die Jahrhundertwende gehören zu den produktivsten Perioden von Sibelius. Er komponierte 1898–1906 auch sehr viele Sologesänge: die Opera 36, 37, 38, 50 sowie vier Lieder des Opus 17. Neben diesen Sammlungen entstanden mehrere Lieder, die ohne Opusnummer blieben. Bis auf Opus 50 gehören diese Lieder zu demselben weiten Feld der Spätromantik wie die zu dieser Zeit entstandenen großen Orchesterwerke, die Symphonien Nr. 1 und 2 (op. 39 und 43) sowie Das Violinkonzert (op. 47). Der größte Teil der beliebtesten Lieder von Sibelius gehört also in die Opera 36–38.

Die Zusammenarbeit von Sibelius und seinem Freund A. V. Forsman (später Koskimies), die mit der Promotionskantate 1897 (Promootiokantaatti 1897) anfing, setzte sich in den nächsten Jahren in folgenden Sologesängen fort: An den Abend (Illalle) (op. 17 Nr. 6, 1898) und Rudere, rudere, blaue Ente (Souda, souda sinisorsa) (ohne Opusnummer, 1899). Im Text des Liedes An den Abend (Illalle) ist eine Doppelbedeutung vergraben: das Gedicht ist sowohl ein Lob der Abendstunde als auch ein Heiratsantrag, den A. V. Forsman an seine Angebetete Ilta (= Abend) Bergroth schrieb.  Rudere, rudere, blaue Ente (Souda, souda, sinisorsa) entstand auch als Heiratsantragsgedicht. Sibelius komponierte beide Lieder im Geist des finnischen Volksliedes und so haben auch Des Abends (Illalle) sowie Rudere, rudere, blaue Ente (Souda, souda, sinisorsa) zu den beliebtesten Liedern des Komponisten in Finnland gehört. Das humoristische Lied Verirrt (Vilse, Eksyksissä) (1898, Tavaststjerna) erzählt von einem Liebespaar, das von einem Echo irregeführt wurde, fügte Sibelius später in Opus 17 ein. Das Lied Segelfahrt (Text von Johannes Öhquist) wurde 1899 vollendet und veröffentlicht, aber ist danach beinahe in Vergessenheit geraten.

Die fünf Lieder des Opus 36 haben seit der Uraufführung zu den beliebtesten des Komponisten gehört. Die Lieder entstanden um die Jahrhundertwende 1899–1900 und wurden auch zu der Zeit veröffentlicht. In vielen Liedern dieses Opus werden Gefühle der Trauer, des Verlustes und des Todes übertragen. Schwarze Rosen (Svarta rosor, Mustat ruusut) (Nr. 1) war das erste Gedicht des schwedischen Künstlers und Dichters Ernst Josephson, das Sibelius vertonte. Der Widerspruch zwischen den lyrischen Perioden in C-Dur und den dramatischen Perioden in cis-Moll überträgt die tragische Stimmung des Textes sehr intensiv. Auf das Todesthema weist auch die Einleitung des Runeberg-Liedes Doch mein Vogel kehrt nicht wieder (Men min fågel märks dock icke, Vaan mun lintuain ei kuulu) hin. Der aufsteigende Akkordlauf am Klavier erinnert an die Einleitung des Werkes Der Schwan von Tuonela (Tuonelan joutsen) (op. 22 Nr. 2). Ballspiel in Trianon (Bollspelet vid Trianon, Palloleikki Trianonissa) (Nr. 3, Gustaf Fröding) bringt einen Schimmer von Humor, aber die Grave-Periode am Schluss wirft einen dunklen Schatten auch in dieses Lied. Aus einem anderen Gedicht von Gustaf Fröding Schilfrohr, säus’le (Säv, säv susa, Soi, soi kaisla) machte Sibelius zuerst eine der nordischen Tradition folgende Fassung, aber die endgültige Fassung (op. 36 Nr. 4) betont die Dramaturgie des Gedichtes: die feststellend ruhigen Perioden andantino und molto tranquillo umrahmen den stürmischen Teil poco con moto, in dem geschildert wird, wie das Mädchen Ingalill sich ertränkt. Die Sammlung endet mit den Gedichten von Josef Julius Wecksell Märzschnee (Marssnön, Maaliskuun lumi) (Nr. 5) und Der Diamant auf dem Märzschnee (Demanten på marssnön, Timantti hangella) (Nr. 6). Das letztere gehörte früher zu den beliebtesten Liedern von Sibelius, aber die zurückschauende, biedermeierliche Ästhetik hat der Zeit nicht gleich gut widerstanden wie zum Beispiel die Lieder Schwarze Rosen (Svarta rosor, Mustat ruusut) und Schilfrohr, säus’le (Säv, säv susa, Soi, soi, kaisla).

Der Zauber und die Farbenpracht der Romantik erreichen den Höhepunkt in Opus 37, dessen Lieder während der Jahre 1901–1902 entstanden. Das Lied Der erste Kuss (Den första kyssen, Ensi suudelma) (Nr. 1, Text von Runeberg) schildert den Dialog zwischen einem Mädchen und dem Abendstern. Nach Erkki Salmenhaara ist dieses Lied ein feines Beispiel dafür, wie der Komponist die Wechsel der Harmonie und der Tonart benutzt, um den psychologischen Inhalt des Gedichtes widerzuspiegeln.

Dasselbe trifft auf das zweite Lied von Runeberg in der Sammlung zu, auf die tragische Ballade Mädchen kam vom Stelldichein (Flickan kom ifrån sin älsklings möte, Tyttö tuli armahansa luota) (Nr. 5), die vielleicht eines der kolossalsten Vokaldramen ist. Das zweite Stück der Sammlung Kleiner Lasse (Lasse liten, Pikku Lasse) beruht auf einem Kindergedicht von Zacharias Topelius, aber das Lied von Sibelius präsentiert nicht die Tradition der Kinderlieder, trotz der einfachen Melodie. Im dritten Lied Sonnenaufgang (Soluppgång, Auringonnousu) (Text von Tor Hedberg) antizipiert das Thema Sonnenaufgang und Reiter des Werkes Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang (Öinen ratsastus ja auringonnousu) (op. 55, 1908). Die Perle seiner lyrischen Produktion War es ein Traum? (Var det en dröm, Unta vain) (Nr. 4, Text von Wecksell) widmete Sibelius seinem Lieblingssopran Ida Ekman. „Bitte schön, hier mein schönstes Lied“, hatte Sibelius festgestellt, als er das Manuskript des Liedes der Sängerin aushändigte. Als Symbol der Liebe gibt es in diesem Lied Blumen, genau wie in den Blumenliedern des Opus 88. Solche romantische Glut und solch farbenreiches Klaviergewebe wie in dem Lied War es ein Traum (Var det en dröm, Unta vain) ist in dieser späten Liederserie nicht mehr zu hören.

Die 1903–1904 neben dem Komponieren des Violinkonzerts (op. 47) entstandenen spätromantischen Lieder bedeuteten eine Wende in der Liederproduktion von Sibelius. Sie nehmen einen Schritt in Richtung auf expressionistische Komplexität der Tonsprache sowie auf Vereinfachung des Klanges. Die ersten zwei Lieder in Opus 38 Herbstabend (Höstkväll, Syysilta) und Auf dem Balkon am Meer (På verandan vid havet, Merenrantakuistilla) (Text von Viktor Rydberg) gehören zu den angesehensten Liedern des Komponisten. Aus dem ersten fertigte Sibelius ein vielfältiges Tableau der Natur mit vielen Episoden, in dem die lange andauernden Akkorde des Klaviers und der darauf rezitierende Gesang die Vision eines Herbstabends mit sehr vereinfachten, aber eindrucksvollen Mitteln schildern. Die Struktur des Liedes Auf dem Balkon am Meer (På verandan vid havet, Merenrantakuistilla) ist einfacher als die des Liedes Herbstabend (Höstkväll, Syysilta): die Modulationen teilen das Lied in drei Episoden, in denen das musikalische Material wiederholt wird. Die Tiefsinnigkeit des Werkes und die Chromatik der Tonsprache sowie das Tritonusmotiv sind mit der Symphonie Nr. 4 verwandt, die erst acht Jahre später komponiert wurde. In dem einzigen richtigen Nocturne der Liederproduktion von Sibelius, In der Nacht (I natten, Yössä) (Nr. 3, Text von Rydberg), wandeln die Unisonomelodie des Klaviers und die halbe Stimme (mezza voce) des Gesangs die nächtliche Stimmung in Musik um. Die zwei letzten Nummern im Opus, Harfenspieler und sein Sohn (Harpolekaren och hans son, Harpunsoittaja ja hänen poikansa) (Text von Rydberg) und Ich möchte, ich wäre (Jag ville, jag vore) (Text von Gustav Fröding) sind nicht gleich stark und originell wie die drei ersten Lieder. Die Libelle (En slända) op. 17 Nr. 5) zum Text von Oscar Levertin ist das am spätesten komponierte Lied in Opus 17: es entstand 1904. In dem Lied Die Libelle (En slända) erinnert der Stil des expressionistischen, freien Dialogs des Gesangs und Klaviers an die Lieder des Opus 38.

Die einzige Sologesangsammlung von Sibelius, die auf deutschsprachigen Gedichten basiert (Opus 50), entstand im Sommer 1906. Sie setzt die kräftige, originelle Linie des Opus 38 nicht fort, sondern die Lieder kommen der deutschen spätromantischen Liedertradition nahe. Vermutlich wurde Sibelius durch die deutschsprachige Dichtung sowie durch den deutschen Verleger der Sammlung inspiriert. Lenzgesang (Kevätlaulu) (Nr. 1, Text von Arthur Fithger) ist vital und stramm und unterscheidet sich deshalb sehr von den auf Schwedisch geschriebenen Verherrlichungen der Natur, die oft entweder ruhig nachdenklich oder sogar andächtig sind (vgl. zum Beispiel die Lieder Lockung [Fågellek] und In der Nacht [I natten, Yössä]). Das entzückende Lied Sehnsucht (Kaipaus) (Nr. 2, Text von Emil Rudolph Weiss) beinhaltet willentliche Manieren der Salonmusik, was sehr untypisch für Lieder von Sibelius ist. Nach dem melancholischen, volksliedartigen Lied Im Feld ein Mädchen singt (Tuoll’ laulaa neitonen) (Nr. 3, Text von Margarete Susman) kommt das erotisch geladene Lied Aus banger Brust (Raskas huokaus) (Nr. 4, Text von Richard Dehmel). Hier ist der Gesang zuerst zurückhaltend, trotz der leidenschaftlichen Arpeggiobegleitung, aber er wächst allmählich zu einem Ausbruch der Leidenschaft (tutta la forza). Die stille Stadt (Hiljainen kaupunki) (Nr. 5), der Text ist wieder von Richard Dehmel, erinnert sowohl wegen seiner Stimmung als auch wegen seiner Struktur an das Lied Der Wegweiser aus der Winterreise-Suite von Franz Schubert, wie Erkki Salmenhaara bemerkt hat. Das letzte Lied Rosenlied (Ruusulaulu) (Text von Anna Ritter) hat Gustav Djupsjöbacka als das Scherzo der Sammlung bezeichnet. Nach den vorangehenden Werken komponierte Sibelius das Lied Erloschen (Sammunut), Text von Georg Pusse-Palma. Er bot das Lied, wie auch das vorige Opus seinem damaligen Verleger, Robert Lienau, an, aber aus unbekanntem Grund blieb das Lied für Jahre unveröffentlicht.