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Letzte Liedersammlungen

Die Lieder, die während des ersten Weltkrieges vollendet wurden, sind in den letzten Sammlungen (op. 86, op. 88 und op. 90) enthalten. Diese Sammlungen repräsentieren die letzte Stilperiode der Lieder von Sibelius: der klassisch zurückhaltende Ausdruck und einfache Formstrukturen ersetzen das dramatische Rezitieren und die spätromantischen oder expressionistischen Töne sowie solche Formstrukturen und Klavieranteile, die die Stimmungen der Gedichte stark reflektieren. Eigentlich handelt es sich um eine Art von „Neoklassizismus“, aber der Ausgangspunkt von Sibelius’ Neoklassizismus ist nicht der Wiener Klassizismus, wie bei den späteren Neoklassikern (oder Barock bei Igor Strawinski), sondern diese Lieder beruhen auf dem romantischen Vorbild der Frühproduktion des Komponisten, vorwiegend auf der nordischen Romanze. Die Tonsprache und der Ausdruck sind jedoch zurückhaltender als in der frühen Produktion und es scheint, dass Sibelius in diesen Liedern nicht so sehr nach Größe strebt, wie so oft in seinen früheren Kompositionen, sondern lieber Miniaturen komponieren will. Auch die Klavieranteile sind anders: die Verwendung der lang anhaltenden akustischen Akkorde hört auf und die Textur wird traditioneller.

Die Gesanganteile sind in allen letzten Liedern vorwiegend lyrisch.  Dieses hängt vermutlich damit zusammen, dass Sibelius alle seine letzten Opera für die Sängerin Ida Ekman komponierte, die „anscheinend um neue Nummern für ihr Repertoire gebeten hatte“, wie Erik Tawaststjerna bemerkt hat. Die fünf ersten Lieder des Opus 86 wurden von Ekman im Oktober 1916 in einer Konzertserie von vier Konzerten uraufgeführt, die die Liederproduktion von Sibelius vorstellte.

Das Opus Nr. 86 entstand im Herbst 1916, kurz vor der Uraufführung der zweiten Fassung der Symphonie Nr. 5. Die erste Nummer der Sammlung Frühlingseindrücke (Vårförnimmelser, Text von Tavaststjerna) ist ein kleinförmiges, fröhliches Frühlingsbild; der Wechsel der Tonart von D-Dur auf F-Dur in der mittleren Strophe frischt das sonst strophenförmige Lied auf. Längtan heter min arvedel (Nr. 2, Text von Erik Axel Karlfeldt) und Gibt’s einen Gedanken (Och finns det en tanke, Jos aatos mull' ois) (Nr. 4, Text von Tavaststjerna) sind die philosophischen Lieder der Sammlung. Die Klavieranteile in beiden Liedern sind äußert vereinfacht – im letzteren Fall könnte man sogar von einer Art Minimalismus sprechen. Auch das Lied Verborgene Verbindung (Dold förening) (Nr. 3, Text von Carl Snoilsky) beruht vom Rhythmus her auf einem Klavieranteil, der durch das ganze Lied total unverändert bleibt. Sängerlohn (Sångarlön) (Nr. 5, Text von Snoilsky) verlangt ein Legato mit einer langen Linie. Erik Tawaststjerna hat es mit dem Lied War es ein Traum (Var det en dröm) verglichen, was vielleicht nicht ganz gerechtfertigt scheint: das spätere Lied scheint nicht nach einer so romantischen Glut zu streben, wie sie in dem früheren Lied zu hören war. Die Sammlung endet mit dem Gedicht Ihr Schwestern, Ihr Brüder, Ihr liebenden Paare (I systrar, I bröder, I älskande par!) von Mikael Lybeck. Der flinke, chromatische Lauf der Klavierbegleitung kommt später auch im Lied Kleine Mädchen (Små flickorna) vor.

Früh im Sommer 1917 begann Sibelius Gedichte für seine neue Liedersammlung zu wählen, die er für Ida Ekman komponierte. Als Thema wählte er die Blumen, die auch in dem zur selben Zeit entstandenen Klavieropus Nr. 85 Thema waren. Die Sammlung setzte sich aus einer Gedichtauswahl aus dem Schaffen zweier Romantiker, Frans Mikael Franzén und J. L. Runeberg, zusammen. Von beiden Dichtern gab es drei Gedichte, mit Blumen als Thema der Sammlung, die am 16. Juni vollendet wurde. Wie schon vorher festgestellt wurde, nannte Sibelius – abweichend von seinen anderen Liedersammlungen – dieses Opus der Sologesänge eine Suite. Ida Ekman, die dabei war, ihre Karriere zu beenden, besorgte im Oktober 1917 mit ihren Abschiedskonzerten die Uraufführung dieser Lieder.

Die in Opus 86 begonnene Kristallisierung der Formen und die Miniaturenartigkeit setzen sich in dieser Blumensuite fort. Kim Borg hat festgestellt: „Die Auswirkung der Suite liegt gerade in ihrer Anspruchslosigkeit und in ihrer stillen Nachdenklichkeit. Sie hat etwas von der alten goldenen Zeit, von der Echtheit des 19. Jahrhunderts.“ Die Stücke sind etwas von Melancholie und slawischem Einfluss getönt; die zarte Schönheit der Blumen bekommt als musikalische Parallelen Schlichtheit und Sensibilität. Man kann direkt sehen, wie die Gedichte eine Lebensspanne von Frühling bis Herbst bilden. Die Anemose (Blåsippan, Sinivuokko) (Nr. 1, Text von Franzén) ist das einzige fröhliche Lied in der Suite; im Klavier trillert die Lerche. Das Lied Die beiden Rosen (De bägge rosorna, Kaksi ruusua) (Nr. 2, Text von Franzén) antizipiert die letzte Nummer der Suite sowohl mit den Themen seiner Melodie als auch mit seinem Walzerrhythmus. Die Sternblume (Vitsippan, Valkovuokko) (Nr. 3, Text von Franzén) zeigt, was für eine große Bedeutung kleine Änderungen in der Klaviertextur in so einer schlichten Musik verursachen können. Die Gesangmelodie des vierten Stückes, Die Primel (Sippan, Vuokko) erinnert an eine finnische Volksliedmelodie, wie man sie auch in manchen anderen frühen Liedern von Runeberg findet. Erik Tawaststjerna hat sie „eine karelische Tanzmelodie“ genannt. Der Dornbusch (Törnet, Villiruusu) (Nr. 5) ist die grandioseste Komposition der Suite, die von Kleinförmigkeit zu Monumentalität zu wachsen versucht, in derselben Art, wie die früheren Lieder von Runeberg. Die Melodie ist mit dem Lied Und ich fragte dann nicht wieder (Se'n har jag ej frågat mera, En mä enää tuota kysy) verwandt. Das letzte Lied der Suite, Die Blume (Blommans öde, Kukkasen kohtalo) schildert das Schicksal einer Blume bei Herbstbeginn. Beim Hören des Liedes erweist sich die melancholische und slawisch anmutende Komposition als Walzer.

Für seine Liedersammlung op. 90 komponierte Sibelius Lieder nur zu Texten von Runeberg. Die neue Sammlung entstand bald nach der vorherigen Sammlung, schon im Dezember 1917 und im Jänner 1918 kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges. Diese sechs Lieder setzten die Stilrichtung der vorangegangenen Opera fort, aber der Komponist strebte nicht mehr nach dem gleichen kleinförmigen und konzentrierten Ausdruck wie früher. In vielen Liedern näherte er sich den Vorbildern seiner frühen Lieder. Zum Beispiel ist das Lied Nr. 3, Der Morgen (Morgonen), geradezu wie eine späte, kleine Schwester des Liedes Lockung (Fågellek), das beinahe dreißig Jahre früher komponiert worden war. Gemeinsamkeiten sind in Tonarten, in Klavieranteilen, in der Formstruktur und in der Stimmung der Lieder zu beobachten. Der Vogelställer (Fågelfängaren) (Nr. 4) ist ein im Geist von Schubert komponierter Anklang an den lustigen Vogelfänger der Zauberflöte. Diese Gestalt ist mit dem jungen Jäger des Liedes Der Jägerknabe (Jägargossen, Nuori metsästäjä) verwandt. Das andächtige Lied Wer hat dich hergeführt? (Vem styrde hit din väg, Tiesi ken tänne toi?) (Nr. 6) wiederum ähnelt dem Lied Hundert Wege (Hundra vägar, Sata tietä). Die Rückkehr wirkt dennoch nicht regressiv, denn auch in diesen Liedern herrschen klassische Zurückhaltung und Intimität vor, anstatt Romantik, wie in den frühen Liedern. Die zwei ersten Lieder Der Norden (Norden, Pohjola) und Ihre Botschaft (Hennes budskap) repräsentieren die absolute Spitze der Sammlung und Sibelius am zeitgemäßesten. Im ersten Lied beflügelt Sibelius die Sehnsucht der Schwäne nach dem Norden zu einem einheitlichen, durch das ganze Lied anhaltenden Crescendo und den Gesanganteil zu einem flexiblen, instrumentalen Legato. Im letztgenannten Lied ist die Nachricht, die ein Mädchen, das sich nach ihrem Geliebten sehnt, mit dem Nordwind geschickt hat, in intensive Strophen arrangiert, die durch Fermaten getrennt sind. „Der Gesang vereinigt in psychologisch dramatischer Art die tonale Spannung, die zwischen dem fis-Moll und dem C-Dur herrscht“, stellte Erkki Salmenhaara fest. Op. 90 blieb das letzte des Komponisten. Vielleicht war es auch so, dass der sehnende und nostalgische Ton der Lieder dieser Sammlung das Ende der Liederproduktion vorwegnahm.