Op.
83 Jedermann (Jokamies)
Musik
für das gleichnamige Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal (ins
Finnische von Hugo Jalkanen), 16 Nummern. Vollendet 1916, Erstaufführung
am 5. November 1916 am Finnischen Nationaltheater in Helsinki (Städtisches
Orchester Helsinki, Dirigent Robert Kajanus). Aus der Musik drei
Fassungen für Klavier (Episodio,
Scèna
und Canzone)
1925–1926.
Sibelius
erhielt im Sommer 1916 von Jalmari Lahdensuo vom Nationaltheater
den Auftrag, Musik für das Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal
zu komponieren. Es handelte sich um Hofmannsthals Version einer
mittelalterlichen Moralität.
Lahdensuo
hat sich an den Auftrag genau erinnert. „Die strahlende Frühlingssonne
schien auf die leuchtend weiß gestrichenen Kiefernholzbretter im
Saal Ainolas. Der Maestro saß am Flügel, spielte irgendwelche
Abschnitte aus einer Partitur irgendeiner Symphonie von Skrjabin
und erklärte immer zwischendrin die Ziele der modernen Musik und
die Anpassung der bis jetzt für eigentümlich gehaltenen Effekte
an die Strukturen der symphonischen Musik.“
„Das
Neueste war damals der Gebrauch optischer Mittel an solchen
Stellen der Kompositionen, in denen die Wahrnehmung der Töne, die
auf dem Gehör beruht, nicht mehr ausreichend war, um der
schaffenden Vorstellungskraft des Komponisten zu genügen. An
solchen Höhepunkten sollten die Zuhörer auch Zuschauer sein –
genau wie im Theater. Man hatte eine Art Lichtorgel erfunden und
wenn man sie spielte, konnte die Musik in verschiedene Lichter und
Farben und in sich dauernd ändernde Zusammensetzungen von beiden
umgesetzt und an die Wandfläche hinter dem im Dämmerlicht
spielenden Orchester projiziert werden. Skrjabin hatte diese
wunderbaren Lichteffekte genial u. a. in der Symphonie eingesetzt,
die Sibelius jetzt durchblätterte und eifrig kommentierte [vermutlich
Prometheus].“ (...)
„Wir
kamen durch den Grund meines Besuchs ganz natürlich auf dieses
Gesprächsthema. Ich war nämlich gekommen, um Sibelius zu bitten,
die Musik für die mittelalterliche Moralität Jedermann
(Jokamies) zu komponieren, weil entschieden worden war, sie unter
dieser Voraussetzung am Finnischen Nationaltheater aufzuführen.“
„Sibelius
hatte ja schon zuvor Bühnenmusik komponiert – König
Kristian (Kuningas Kristian), Pelléas
und Mélisande (Pélleas ja Mélisande), Schwanenweiß
(Joutsikki) – aber meistens nur Ouvertüren und Zwischenspiele,
also eigentlich keine die Ereignisse auf der Bühne begleitende
Musik. Jetzt würde die Musik durch und durch von dieser Art sein,
d. h. also, Intensivierung der akustistischen und optischen
Elemente auf der Bühne und durch sie auch Intensivierung der
Musik. Mit anderen Worten: die mit optischen Mitteln zugespitzte
Musik von Skrjabin umfassender und praktischer anpassen.“
Sibelius
war von dem Plan begeistert und versprach mehr Musik für das
Schauspiel zu komponieren, als Lahdensuo zu wünschen gewagt hatte.
Er verlangte jedoch beim nächsten Treffen genaue Angaben über
die Dauer jeder Szene, obwohl nicht einmal die Übersetzung des
Textes vorhanden war. Der arme Regisseur gab ihm ungefähre Längen.
Die
Bühnenmusik wurde am 6. Oktober vollendet und die Proben fingen
im selben Monat an. Sibelius wurde ungeduldig, weil die Musik mit
dem Tempo des Schauspiels nicht zusammenpasste. Besonders die
Repliken des Teufels schienen immer an eine falsche Stelle der
Musik zu geraten.
Sibelius
hatte von sich dasselbe verlangt, wie die Filmkomponisten etwas später
von sich: Musik, die sekundengenau mit dem Ereignis im Film oder
auf der Bühne zusammenpasst. Sibelius hatte jedoch ohne Film
komponieren müssen und das hatte dann auch Schwierigkeiten zur
Folge.
Im
November wurde Jedermann
(Jokamies) uraufgeführt und man sagte, dass die Musik von
Sibelius das Schauspiel gerettet hätte. Nach Madetoja durfte
solcher „Realismus im besten Sinne des Wortes“, der so
reibungslos mit dem Ton des Schauspiels verbunden war, vergebens
in der Bühnenmusik anderer Länder gesucht werden. „Meiner
Meinung nach ist Jedermann
(Jokamies) ein großer Erfolg“, stellte auch Sibelius fest. Die
Umstände waren allerdings nicht optimal. „Die Musik des Werkes Jedermann
(Jokamies) ist so schön. Es ist nur schade, dass man sie nicht so
richtig hören kann, weil das Orchester hinter der Bühne sein
muss“, meinte Aino Sibelius.
Die
Geschichte des Schauspiels Jedermann
(Jokamies): Im Prolog, nach zwei Signalen der Blechinstrumente,
wird erzählt, dass die Geschichte belehrend sei. Dann kündigt
Gott an, dass er durch die Sündhaftigkeit der Menschen enttäuscht
sei und bittet den Tod, Jedermann zu holen, der also die
Menschheit symbolisieren darf. Die Glocken läuten in Quarten.
Bald
ist Jedermann beim Bewundern seines Vermögens zu sehen. Er
schickt die Armen weg und hält eine Lobrede auf den Mammon. Die
Mutter bittet ihren Sohn, sich zu bessern, aber Jedermann
interessiert sich mehr für das kommende Fest, das die Musik schon
ankündigt. Als Nächstes ist das Lied Me
kutsun saimme,
in dem die Kirchentonart (äolisch) Verwendung fand, zu hören.
Jedermann ahnt etwas Böses und er wird durch neue Lieder
aufgemuntert. Während des Liebesliedes hört die Hauptfigur
wieder das Läuten ihrer Totenglocken und sie schlürft mehr Wein.
Letzten Endes kommt der Tod, um seine Aufgabe zu erfüllen.
Jedermann fleht die Leute an, ihm auf seiner letzten Reise zu
folgen. Er bekommt das Dienstpersonal und eine Geldtruhe mit sich,
aber als der Tod sich nähert, entfernt sich das Personal. Der aus
der Geldtruhe aufsteigende Mammon hat auch nicht die Absicht,
Jedermann ins Grab zu folgen.
Die
Gute Tat – oder deren Verkörperung – kann Jedermann auch
nicht helfen, weil es ihr wegen des sündenvollen Lebens
Jedermanns so schlecht geht. Sie schlägt ihre Schwester, den
Glauben, als Lösung vor. Mit dessen Hilfe bereut Jedermann
endlich und betet. Der Teufel quält ihn noch. Gerade an dieser
Stelle verzweifelte Sibelius, weil die Musik und das Auftauchen
des Teufels bei den Aufführungen nicht immer zusammenfielen. Die
Musik des Teufels ist auch faszinierend chromatisch, aber die
Glocken erzählen, dass der Teufel dennoch unterlegen ist und dass
Jedermann das ewige Leben begonnen hat. Dieser betritt sein Grab
und die Gute Tat folgt ihm. Der Gesang der Engel bindet schließlich
den Männerchor in das Geschehen ein.
Jedermann
(Jokamies) umfasst insgesamt sechzehn Nummern, deren Dauer
zwischen ein paar Sekunden und zehn Minuten liegt, sehr genau nach
den Anweisungen von Hofmannsthal. Die Musik hat einen
nachdenklichen und dunklen Ton, der irgendwo zwischen den Symphonien
Nr. 4 und 5 liegt.
Die Orchestration ist ungewöhnlich: an das sibelianische
Grundorchester schließen sich jetzt das Klavier, die Orgel und
ein gemischter Chor an.
Sibelius
arbeitete die Bühnenmusik in keine Orchestersuite um und so wurde
sie vergessen, obwohl das Schauspiel noch in den Festjahren 1935
und 1965 mit gutem Erfolg aufgeführt wurde. 1935 betonte der
Komponist weiterhin, dass „die Musik genau auf den Takt dem Text
folgen musste, weil die Tonfiguren den Text reflektierten. Davon
durfte man nicht abweichen. Der Text musste den Melodien angepasst
werden, da soll es keine Ausnahmen geben“, wie die Regisseurin
Glory Leppänen sich erinnerte.
Im
Jahr 1995 war die Musik wieder für das große Publikum zu hören
– in der Aufnahme des Städtischen Orchesters Lahti mit Osmo Vänskä.
Nach der Aufnahme drückte zum Beispiel der britische Komponist
Thomas Adès sein Entzücken über die karge und originelle Musik
des Schauspiels Jedermann
(Jokamies) aus.