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Violinkonzert

Op. 47 Konzert d-Moll für Violine und Orchester (Konsertto viululle ja orkesterille, d-molli). 1. Allegro moderato, 2. Adagio di molto, 3. Allegro ma non tanto. 1. Fassung 1904, Erstaufführung am 08. Februar 1904 in Helsinki (Viktor Nováček, Orchester der Philharmonischen Gesellschaft, Dirigent Jean Sibelius). Endgültige Fassung 1905. Erstaufführung am 19. Oktober 1905 in Berlin (Karl Halír und das Philharmonische Orchester Berlin, Dirigent Richard Strauss). Partitur für Klavier 1905.

Das Violinkonzert von Jean Sibelius ist das am öftesten aufgenommene und aufgeführte Violinkonzert aller Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts. Beinahe jeder bemerkenswerte Violinist, u. a. Jascha Heifetz, hat es aufgeführt. Am Anfang unseres Jahrhunderts waren über 50 verschiedene Aufnahmen erhältlich.

Sibelius fing schon im Jahr 1899 an, das Violinkonzert zu planen: „Ich habe daran gedacht, ein Violinkonzert zu komponieren. Wenn alles mit der Bühnenmusik des Königs [König Kristian II, Kuningas Kristian II] gut läuft, gebe ich meine anderen alten Werke niemandem [keinem Verleger?], bevor ich sie gründlich überarbeitet habe, “ schrieb er am 2. September an Adolf Paul. Die nächste Angabe zu dem Violinkonzert findet man im Sommer 1902 in einem Brief von Axel Carpelan an seine Kusine Lydia Rosengren:

„(…) Er hat auch eine Ballade bzw. eine Zauberformel (Kanteletar) für Sopran und großes Orchester skizziert (für Frau Ekman, die vier seiner Lieder in ihrem Herbstkonzert singen wird). Es gibt auch 20 Nummern für ein Ballett, zu denen leider der Text fehlt und ein Violinkonzert für Orchester und eine große Fantasie für Orchester ist in der Entwurfsphase sowie ein ganzes Heft voll von Klavierstücken, die zu Weihnachten veröffentlicht werden. Du siehst also, dass er seine Zeit sehr genau ausnutzt. Danach fängt er an, ein Streichquartett zu komponieren.“

Nur etwas später schrieb auch Sibelius selbst über das Konzert. „Ich habe herrliche Themen für mein Violinkonzert gefunden“, verriet er Aino am 18. September. Bald mussten sie aber vom Land nach Helsinki umziehen. Sibelius konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren und der Alkohol wurde für ein paar Jahre ein echtes Gesundheitsrisiko.

Im Herbst 1903 teilte Sibelius mit, dass er sein Violinkonzert seinem Bekannten Willy Burmester widmen werde, der seinerzeit als Konzertmeister in Kajanus’ Orchester gespielt hatte und danach eine große Karriere als Geigenvirtuose in Mitteleuropa gemacht hatte. Im Dezember 1903 konnte der Komponist Carpelan mitteilen, dass zwei Sätze des Konzerts vollendet wären und die Instrumentation des dritten Satzes noch gemacht werden müsste.

Anfang 1904 komponierte Sibelius wie besessen an dem Konzert und spielte selbst Tag und Nacht die Themen auf seiner Geige. Aino Sibelius schilderte Axel Carpelan die Kompositionsarbeit so:

„Janne ist die ganze Zeit in Hochstimmung gewesen (und ich auch!) und es ist auch dieses Mal eine 'embarras de richesse' [Verlegenheit aus Überfülle] gewesen. Er hat eine solche Menge von Motiven, die sich ihm aufdrängen, dass er förmlich wirr im Kopf gewesen ist. Die Nächte hindurch wacht er, spielt wunderbar schön, kann sich nicht von den verzaubernden Tönen losreißen – er hat so viele Ideen, dass es kaum zu glauben ist. Und alle Motive so entwicklungsfähig, so voll von Leben.“

Die Erstaufführung des Konzerts war am 8. Februar. Viktor Nováček spielte in der Erstaufführung Violine, denn Sibelius wartete ungeachtet seiner Versprechungen nicht, dass Willy Burmester Zeit gehabt hätte, das Werk aufzuführen. Das Konzert wurde zwei Mal wiederholt. Merikanto hielt die Aufführung von Nováček, der auswendig spielte, sogar für „meisterhaft“, aber die Wahrheit mag etwas anders gewesen sein. Nach Aussage des Konzertmeisters Carl Lindelöf war Nováček schon bei den Proben langsam und nörgelte über die Schwierigkeit der schnellen Läufe. Das Werk war ja auch sehr anspruchsvoll.

In seiner zweiten Rezension bemerkte Merikanto, dass Nováček dennoch kein „meisterhafter“ Spieler gewesen wäre. „In den Händen von Burmeister würde das Werk sicherlich einen großartigen Eindruck machen (…), Nováček war nur teilweise fähig, solche Pracht und strahlende Gewissheit in die Aufführung zu bringen, die eine Virtuosennummer, wie diese es unbedingt verlangt“, schrieb Merikanto.

Das Konzert selbst beschäftigte die Kritiker nicht allzu sehr. Flodin meinte, dass Sibelius dem Drang nach traditioneller Virtuosität nachgegeben hätte und das hätte dem ganzen Werk geschadet. Evert Katila von „Uusi Suometar“ lobte das Werk, aber schlug einige Änderungen vor. Merikanto seinerseits war von dem langsamen Satz entzückt, aber hielt das Finale für schwächer und für zu schwierig. Er prophezeite, dass die Violinisten in der Zukunft in erster Linie den langsamen Satz des Konzerts spielen würden.

Burmester hatte seinen Stolz hinuntergeschluckt und schlug vor, dass er das Konzert im Oktober 1904 aufführen würde. „Alles, was meine 25-jährige Konzertroutine, meine Kunst und mein Verständnis ermöglichen, werde ich ganz und gar in dieses Werk hineinstecken“, teilte Burmester mit.

Sibelius fasste jedoch den Entschluss, das Werk noch umzuarbeiten. „Ich nehme mein Violinkonzert zurück, es wird erst in zwei Jahren erscheinen. Der erste Satz muss gründlich umgearbeitet werden, auch die Proportionen im Andante usw.“, schrieb er im Juni 1904 an Axel Carpelan.

Im Frühling 1905 vollendete Sibelius auch die zweite, konzentriertere und etwas leichtere Fassung, aber er gab sie Karel Haliř zum Aufführen. Burmester trug ihm das nach und spielte das Konzert nie.

Das Konzert wurde in den nächsten Jahrzehnten langsam beliebter. Eine Wende fand erst dann statt, als Jascha Heifetz das Konzert in den 1930er Jahren aufnahm und somit das Werk weltberühmt machte.

Nach Sibelius’ Meinung war ein Solist, der auf seinen Auftritt wartete, normalerweise eine uninteressante Erscheinung. In seinem Violinkonzert ist der Solist sogleich dran und stellt das prächtig biegende Thema vor, voll von sibelianischen Zügen, angefangen beim dorischen Ton.

Die ursprüngliche Fassung setzt sich schwieriger und verschiedenartiger fort, als die endgültige Fassung. In der ursprünglichen Fassung gibt es 542 Takte, in der endgültigen Fassung 499. Die zweite, etwas an Bach erinnernde Kadenz im ersten Satz der ursprünglichen Fassung erklärt die Unterschiede der Maße. Die Kadenz ist vornehme Musik, aber sie war etwas lose und passte deshalb nicht in die endgültige Fassung des Konzerts.

Die endgültige Fassung zeigt keine Seitentriebe. Die Spannung entsteht zwischen dem Geigenvirtuosen und dem Symphoniker: der Geiger Sibelius sieht in dem Konzert eine Gelegenheit, alle seine Virtuosenträume auszuleben. Der Symphoniker Sibelius wiederum gibt dem Orchester mehr wichtiges Material als es in den herkömmlichen Virtuosenkonzerten üblich war. „Das virtuose Material springt organisch aus der Thematik hervor“, schrieb Erkki Salmenhaara. Sogar die Solokadenz ist im ersten Satz als fester Teil der architektonischen Ganzheit integriert.

Die Violine ist ohne Zweifel der König des Konzerts: Sibelius nimmt von der Instrumentation der endgültigen Fassung genau so viel weg, dass der Solist nie verdeckt wird. Während der gelegentlichen Pausen des Solisten, darf das Orchester seinen ganzen harmonischen und dynamischen Reichtum vorstellen. Zum ersten Mal zeigt das Orchester seine Kraft in dunklen Farben mit dem Fagott und den Streichinstrumenten:


Auszug aus einer Partiturseite des Violinkonzerts, Breitkopf & Härtel.

Hier beginnt der prächtige Übergang, der auf dem Hauptthema beruht und andererseits schon die Motive des Seitenthemas vorstellt. Die springenden Quinten im Nebenthema führen direkt zum Schlussthema. In der organischen Entwicklung verläuft alles nahtlos; Sibelius’ Virtuosität ist unbestreitbar.

Die Entwicklungssequenz ist eine prachtvolle Solokadenz, in der das Hauptthema mit virtuosen Mitteln behandelt wird. Alle Doppelgriffe, Skalenfiguren und Triller dienen sowohl den Bedürfnissen des Virtuosen als auch der Ganzheit der Komposition. Das Hauptthema wird in dunklen Farben wiederholt: der Violinist spielt auf der G-Saite. Das Orchester setzt mit einer enormen Steigerung fort und die Violine antwortet darauf. Die Flöten stellen das Schlussthema vor und der Violinist begleitet es mit gewaltigen Arpeggios. In der Schlussklimax wird noch einmal die ganze Dramatik des Hauptthemas ausgenutzt.

Der zweite Satz, Adagio di molto, kommt der ursprünglichen Fassung am nächsten. Sibelius hat eigentlich nur den Solistenanteil von Seitentrieben und Virtuosentricks gesäubert. Die statische und herzliche Schönheit des Hauptthemas verlangt von dem Spieler Geduld und Schlichtheit.


Auszug aus einer Partiturseite des Violinkonzerts, Breitkopf & Härtel.

Dieselbe Atmosphäre beherrscht den ganzen Satz. In der ursprünglichen Fassung bricht ein loser Virtuosenlauf die Atmosphäre gerade vor dem Schluss, aber in der endgültigen Fassung ist die Atmosphäre ausgeglichen und die Schönheit unversehrt.


Auszug aus einer Partiturseite des Violinkonzerts, Breitkopf & Härtel.

Über die Tempobezeichnungen im Finale ist viel gesprochen worden. Sibelius ersetzte die Bezeichnung Allegro ma non tanto (schnell aber nicht zu schnell) mit Allegro und betonte, dass das Virtuosenmaterial des Konzerts nur dann zum Vorschein kommt, wenn das Finale in der von dem Komponisten angegebenen Metronombezeichnung 108–116 gespielt wird. Der Komponist akzeptierte jedoch auch das langsame Tempo in der Aufnahme von Ginette Neveu, weil die Violinistin so gut spielte. Heute beanspruchen die Violinisten für das Finale genau so viel Zeit wie Neveu. Auf diese Weise kann das Finale manchmal einen Teil seines Schwunges verlieren. Da helfen die gut gemeinten Charakterisierungen der Musikkritiker überhaupt nicht: David Tovey beschrieb das Finale u. a. als eine Polonaise der Eisbären, was der Absicht des Komponisten kaum entspricht: Das beschreibt das Seitenthema einigermaßen gut, aber im Ganzen ist das Finale etwas ganz anderes.


Auszug aus einer Partiturseite des Violinkonzerts, Breitkopf & Härtel.

Erik Tawaststjerna sieht in der Rhythmik Motive eines „Beschwörungsrituals“. Der Solist entwickelt aus dem Thema glanzvolle Figuren und Terzreihen. In der ursprünglichen Fassung führt der Solist die Musik zu einer tanzartigen und an Mendelssohn erinnernden Überleitungsbrücke, aber in der endgültigen Fassung ist diese ein paar Minuten lange, lose Brücke gestrichen und das Orchester kann das Seitenthema früher vorstellen:


Auszug aus einer Partiturseite des Violinkonzerts, Breitkopf & Härtel.

Das Orchester und der Solist entwickeln die Motive abwechselnd. Das Hauptthema wird auch in Moll behandelt, und im Seitenthema sind auch virtuose Flötenstimmen der Violine zu hören. Der Sieg über die Kräfte der Dunkelheit scheint erst in den allerletzten Takten gesichert, wenn das Solo von zwei Orchesterschlägen unterstützt in die Höhe steigt.


Auszug aus einer Partiturseite des Violinkonzerts, Breitkopf & Härtel.

Die Gattin des Komponisten gehörte zu den Freunden der ursprünglichen Fassung: „Ich mag die erste Fassung des Violinkonzerts. Papa änderte sie, als sie in Grund und Boden geschimpft wurde (…) Viele virtuose Stellen sind dann weggeblieben. Das Konzert ist jetzt leichter“, erinnerte sich Aino Sibelius. Sie erhielt späte Unterstützung, als 1991 die Aufnahme der Originalfassung durch Leonidas Kavakos und dem städtischen Orchester Lahti, dem Stück Weltruhm brachte.

Das endgültige Violinkonzert, das jeder kennt, ist dennoch mit einem sichereren Geschmack komponiert und ein ausgewogeneres Meisterwerk. In diesem dienen auch die wildesten Virtuosenstellen der musikalischen Ganzheit.