Sibelius
traf seine Verlobte im Sommer 1891 in Tottisalmi in der Nähe von
Vaasa in Järnefelts Sommerhaus wieder. Von Hochzeit konnte jedoch
keine Rede sein, weil der Bräutigam mittellos und ohne Beruf war.
Sibelius zog sich nach Loviisa unter die Fürsorge der Tante
Evelina zurück, um an Kullervo
zu arbeiten und verdiente Taschengeld mit Privatunterricht in
Musik.
Jean
Sibelius' Annonce für Privatstunden in Musik
Am
24. November trat Sibelius zum ersten Mal als Kapellmeister auf.
Er dirigierte Die
Ouvertüre
(Alkusoitto) und Die
Balletszene (Balettikohtaus)
in einem Populärkonzert in Helsinki. „Das Dirigieren war
fantastisch. Ich war überhaupt nicht nervös. Ich fühlte mich
nur einen Kopf größer“, schrieb Sibelius an Paul. „Wenn nur
die Kompositionen nicht solcher Dreck gewesen wären“, fügte er
hinzu.
Gegen
Anfang Dezember machte Sibelius einen Abstecher nach Porvoo, um
der 57-jährigen Runensängerin Larin Paraske zuzuhören, die sich
im Haus des Pfarrers Adolf Neovius aufhielt. Larin Paraske alias
Paraskovia Mikitiina (1833-1903) war zu ihrer Zeit eine
Attraktion, eine Runensängerin aus Ingermanland. Ca. 32 000 ihrer
Verse waren aufgezeichnet worden. Sibelius gestand später einen
Einfluss von Larin Paraske auf Kullervo nicht ein.
Am
Jahresende wuchs der Ruf von Sibelius, als Adolf Paul in seinem
Erstlingsroman Ein Buch über
einen Menschen (En
bok om en människa) die
Veranlagung einer der Hauptpersonen zu einem beschwingten Leben,
zum genialen Komponieren und zur Selbstgefälligkeit schilderte.
Diese Eigenschaften kamen auch bei Sibelius zum Vorschein, als er
Ende Januar nach Helsinki in eine Wohnung im Kurbad Ullanlinna in
Kaivopusto umzog.
Sibelius
lernte Robert Kajanus näher kennen und feierte lebenslustig mit
seinen neuen Freunden. Während des Frühlings bewies Sibelius
jedoch auch, dass er hart arbeiten konnte. Das Komponieren von Kullervo
nahm letztendlich sowohl die Tage als auch die Nächte in Anspruch.
Das
riesige, 5-teilige Werk für Orchester, Männerchor sowie für
Sopransolistinnen und Baritonsolisten, wurde im April fertig. Das
Komponieren des Werkes hatte ein Jahr in Anspruch genommen. In den
Proben zu Kullervo war der Chor begeistert, und das zum größten
Teil mit deutschen Musikern ergänzte Orchester amüsierte sich
sogar über die eifrige Direktorengestik des Komponisten und über
die neuartige Partitur. Sibelius erwies sich als geschickter
Organisator, wenn er sich um die praktischen Sachen kümmerte: die
Saalmiete für das Konzert, die Annoncen, die Programmhefte und um
Ähnliches.
Leute
des Zirkels um „Päivälehti“ und andere Fennomanen (Anhänger
der finnischen Sprache und Kultur) kamen, um das Kalevala-Werk
in finnischer Sprache zu hören. Das Konzert dauerte über eine
Stunde und danach applaudierte das Publikum, auch wenn nicht alle
das Werk verstanden hatten.
Robert
Kajanus hatte schon im Voraus für Sibelius einen Kranz bestellt,
an dem folgende Worte (ein Vers aus dem Kalevala) zu lesen waren:
„Damit ist der Weg geebnet, ist die Bahn abgesteckt“ (Kalevala,
übersetzt von Gisbert Jänicke, 2004) (Siitäpä nyt tie menevi,
ura uusi urkenevi“. Bedingt durch Kajanus'
Renommee wurde der Applaus lauter und die Uraufführung wurde
letztendlich als Erfolg gewertet.
Die
Meinungen der Kritiker waren gespalten: Oskar Merikanto von „Päivälehti“
hielt das Werk für die vorläufig eindrucksvollste finnische
Komposition, aber schwedischsprachige Kritiker brachten auch
Vorbehalte zum Ausdruck. Nach Aino Sibelius'
Aussage war es Kullervos Erfolg, der ihre Eltern dazu
bewegte, ihre Einwilligung zu Ainos und Jannes Hochzeit zu geben.
Dazu trug auch bei, dass Sibelius die Zusage erhalten hatte,
sowohl am Musikinstitut als auch an der Orchesterschule Kajanus'
als Lehrer arbeiten zu dürfen.
Aino Sibelius 1895.
Die
Hochzeit fand am 10. Juni 1892 in Järnefelts'
Sommerhaus in Tottisalmi statt. Nach der Hochzeit verbrachte das
jungverheiratete Paar seine Flitterwochen im Haus Monola nahe
Lieksa. Neben all den Liebkosungen der Neuverheirateten arbeitete
Sibelius an seinem Werk Eine Sage (Satu) und überarbeitete
die Lieder Unter
Ufertannen
(Under strandens granar),
Kusses
Hoffnung
(Kyssens
hopp)
und An
Frigga (Till
Frigga) zu Versen von Runeberg.
Sibelius
konnte sich die Hochzeitsreise leisten, weil er von der Universität
ein Reisestipendium erhalten hatte, um in Karelien das
Kantelespielen und die Runenlieder zu studieren. Sibelius reiste
also nach den Flitterwochen in Monola tiefer nach Karelien und
Aino brach zu ihren Verwandten nach Kuopio auf.
Auf
seiner Reise hörte Sibelius zum Beispiel Mikko Tolvanen, Stepnaii
Kokkonen, Mikhail Wornanen sowie Pedri Shemeikka singen. Shemeikka
machte auf ihn den größten Eindruck. Sibelius vermutete in
seinem Stipendiumsbericht, dass die von Shemeikka gesungene
Melodie die älteste und echteste Melodie der finnischen
Volksdichtung sei, mit der er sich auf seiner Reise vertraut
machen konnte. Die Runenmelodie von Shemeikka setzt sich aus sechs
Wechselgesängen in 5/4 Takt zusammen und Sibelius gebrauchte sie
später unverändert in der ersten Szene seiner Karelia-Bühnenmusik.
Mitte
August kam Sibelius nach Kuopio und bekam – nach seinen
Erinnerungen – Stimmungsbilder und Anregungen zu seinem Werk Nächtlicher
Ritt und Sonnenaufgang
(Öinen ratsastus ja
auringonnousu), das er aber erst im Jahr 1908 komponierte.